Forschungsmethoden

Eines der Hauptziele von iDESkmu besteht darin, IT-Arbeitsplätze so zu gestalten, dass diese auch von Menschen mit Sinnesbehinderungen optimal genutzt werden können. Der Fokus liegt auf der Barrierefreiheit von Dokumentenmanagementsystemen und Enterprise Content Managementsystemen (DMS/ECMS). Ziel des Projekts ist es, bestehende Arbeitsmöglichkeiten für blinde und sehbehinderte Arbeitnehmer*innen zu verbessern und neue zu schaffen. Das Projekt untersucht in diesem Rahmen die sozio-technischen Konfigurationen, also die alltägliche Praxis der Menschen, die im Zusammenspiel mit anderen Menschen, Institutionen, verfügbarer Infrastruktur und computergestützten Werkzeugen Aufgaben lösen, die durch die Arbeitspraxis geformt und geprägt sind.

Sozio-informatischer Ansatz: Forschungsfokus auf der alltäglichen Praxis

Im Projekt iDESkmu besuchen Forschende der Universität Siegen Unternehmen, um herauszufinden, wie der Grad der Barrierefreiheit ihrer DMS und ECSM zur Zeit ist. Dazu nutzen sie mehrere Methoden für Workplace Studies, um die Bedingungen am Arbeitsplatz und die Bedürfnisse der Anwender*innen zu untersuchen. Beispiele sind teilnehmende Beobachtung, Shadowing, Interviews, Cultural Probes und Tagebuchführung. Diese ethnographischen Methoden sind ein wesentliches Merkmal sozio-informatischer Ansätze. Sie tragen dazu bei, den Anwendungsbereich ganzheitlich zu verstehen. Nur wenn die Arbeit in der Praxis untersucht wird, ist es möglich, die Schwierigkeiten zu verstehen und sie mit angewandten Forschungs- und Designmethoden anzugehen. Den realen Ablauf zu verstehen ist essenziell für diese Forschung, da sich die sozio-technische Konfiguration kontinuierlich und dynamisch verändert. Die kleinste Änderung, beispielsweise das Einbringen von neuen Artefakten* (bspw. computergestützten Werkzeugen, anderen Infrastrukturen) in einen Kontext (Arbeitsablauf), hat Auswirkungen auf Individuen und Technologienutzung. Obwohl Interviews und Fragebögen einen Teil davon abbilden können, sind ergänzende Beobachtungsmethoden erforderlich. Fertigkeiten, die Menschen routiniert anwenden und die sie im Alltag nicht bewusst reflektieren, können nur über qualitative Beobachtungsverfahren erfasst werden.

Community-based Participatory Research: Teilnehmer*innen werden zu Akteuren

Die Teilnehmer*innen werden nicht nur als Forschungssubjekte angesehen, sondern sie werden eingeladen, mit den Forschenden gemeinsam ihre Arbeitsumgebung zu reflektieren und neue Ansätze mitzugestalten. Die methodische Grundlage bietet der Ansatz des Community-based Participatory Research (CBPR). CBPR-Ansätze zielen darauf ab, die Teilnehmer*innen selbst zu befähigen, Erkenntnisse und Ergebnisse zu generieren und sich bewusst nicht nur als Informanten zu sehen.

Mitarbeiter*innen in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) werden dabei zu relevanten Akteur*innen, wenn es um das gemeinsame Verständnis der realen Praxis geht, speziell um das Verständnis, wie mit vorhandenen und neuen Artefakten* umgegangen wird. Die praxisorientierte Forschung ist eine kooperative, intellektuelle und emotionale Herausforderung, die ein hohes und nachhaltiges Engagement aller Beteiligten erfordert. CBPR verdeutlicht das durch die Gleichstellung der Teilnehmer*innen, die als vollwertige und gleichberechtigte Partner in allen Phasen des Forschungsprozesses gelten. Eine Kooperationsbeziehung auf Augenhöhe bietet Vorteile für den gesamten Forschungs-, Einführungs- und Evaluationsprozess der IT-Produkte, die im Laufe des Projekts entwickelt werden sollen: Mitarbeiter*innen werden in ihrer Autonomie und Selbstbestimmung gestärkt, was sich meist positiv auf die Motivation auswirkt, sich aktiv an Veränderungsprozessen zu beteiligen. Das Projekt bietet dafür, für kritische Reflektion und für die aktive Auseinandersetzung im Team einen Raum.

Möglichkeiten für individuelles Engagement

Die Höhe des Engagements bei CBPR kann je nach Anzahl und der individuellen Motivation der Teilnehmer*innen variieren. Auf der elementaren Ebene können die Mitarbeiter*innen eine Insiderperspektive auf den untersuchten Forschungsgegenstand (hier: die reale Praxis) geben. Wenn sie sich mehr engagieren wollen, bringen sie ihre eigene Interpretation der Ergebnisse mit ein, um so der untersuchten Gemeinschaft oder Gruppe eine Stimme zu geben. Das bedeutet, dass Forschende und Teilnehmende gemeinsam daran arbeiten, zu einem Konsens zu kommen, indem sie in Dialog treten und sich gegenseitig Feedback geben – sich gegenseitig reflektieren. Die Teilnehmer*innen können in Datenerhebungs- und Analysemethoden geschult werden und so auch aktiv an den Untersuchungen mitarbeiten. Wenn Teilnehmende auch Co-Forschende sind, trägt das zur Glaubwürdigkeit der Forschung gegenüber der Gemeinschaft oder Organisation bei. 

Im Projekt iDESkmu wird ein Konzept entwickelt, um strategisch Verantwortliche, Projektmanager*innen, Softwareentwickler*innen, Mitarbeiter*innen mit und ohne Behinderungen und die breite Öffentlichkeit für Barrierefreiheit in der Softwareentwicklung und am Arbeitsplatz generell zu sensibilisieren. Diese Zielgruppen des Konzepts sind gleichzeitig die Zielgruppen der Forschung, was die Relevanz der sozio-informatische Perspektive mittels CBPR-Ansatzes noch einmal unterstreicht. Seminare, Richtlinien und innovative Methoden zur Bewertung der Barrierefreiheit von Softwaresystemen werden Teil dieses Konzepts sein. Allen Interessengruppen wird das Konzept durch einen computergestützten, kooperativen Lernansatz (Computer-Supported Cooperative Learning CSCL) zugänglich gemacht.

* Artefakt: ein durch menschliche oder technische Einwirkung entstandenes Produkt oder Phänomen, in Abgrenzung zum unbeeinflussten oder natürlichen Phänomen

Quellen

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