Gesetze, Normen & Verordnungen

Mittelständische Unternehmen, Verbände und Verwaltungen müssen sich auf vielfältige Weise mit dem Thema Barrierefreiheit auseinandersetzen. Zum einen haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen in den letzten Jahren deutlich dadurch verschärft (zuletzt und weitreichend durch den European Accessibility Act - EAA), dass die Anforderungen an Barrierefreiheit in Normen und Gesetzen auf europäischer und damit zwangsläufig auch nationaler Ebene konkretisiert worden sind. Zum anderen können Unternehmen durch barrierefreie Produkte und Dienstleistungen sowie Innovationen neue Zielgruppen und Märkte erschließen. 
Der demografische Wandel fügt dem Markt in den nächsten Jahren eine weitere Dimension hinzu. Nicht zuletzt dadurch verändert sich die Zusammensetzung der Mitarbeiterschaft auch in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Ein immer größer werdender Anteil an älteren und länger arbeitenden Mitarbeiter*innen sowie der deutlich spürbare Fachkräftemangel erfordern Lösungen. Das Projekt iDESkmu kann durch neue Kompetenzen und Horizonte positive Signale setzen. Diese wirken sich nach innen (z.B. Mitarbeiterbindung und Unternehmenskultur) und außen (u.a. Imagepflege und Markenstärkung) aus. Die Grundlage für alle Handlungsoptionen ist ein fundiertes Wissen des rechtlichen und normativen Rahmens. 

Benachteiligungsverbot

In Deutschland setzte mit der Änderung des Grundgesetzes im Jahr 1994 eine wichtige Entwicklung für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein. Ein Benachteiligungsverbot erhielt damit Verfassungsrang: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden (Artikel 3 (3) GG). Ein einfacher und klarer Satz mit tiefgreifenden Folgen. Dieses Grundrecht führte zu einer Umsetzung auf Ebene der Bundesgesetzgebung: einer Änderung der Sozialgesetzgebung und der Verabschiedung des Gesetzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz – BGG) im Jahr 2002. 

Selbstbestimmung steht im Vordergrund

Nachdem in den Jahren davor die Eingliederung in einem Fürsorgesystem mit staatlichen Maßnahmen im Vordergrund stand, wurde nun das Recht auf Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen gestärkt. Barrieren, die einer gleichberechtigten gesellschaftlichen und beruflichen Teilhabe im Weg stehen, sind abzubauen bzw. sollen gar nicht erst entstehen. Für eine zukunftsweisende selbstbestimmte Lebensweise sollte niemand auf staatliche Pflichten warten müssen, sondern sein Leben nach seinen Bedürfnissen gestalten können. Es geht nicht nur um Teilhabe, sondern auch um Teilgabe, wie es Raul Krauthausen in einem Interview im Deutschlandfunk im März 2019 formuliert hat.

Recht auf barrierefreie IT und Teilhabe am Arbeitsleben

Das BGG verankert eine umfassende Barrierefreiheit in vielen Lebensbereichen, so auch für barrierefreie Informations- und Kommunikationstechnologie. Allerdings gilt das BGG nur für öffentliche Stellen des Bundes und berührt nicht die Pflichten von privaten Arbeitgebern. Zur Umsetzung des aus dem BGG resultierenden Anspruches wurde ebenfalls im Jahr 2002 eine Rechtsverordnung erlassen: die Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung – BITV). Lesen Sie mehr zu Prüfverfahren.

Da das BGG nur auf der Bundesebene gilt, haben die Bundesländer eigene Gesetze erlassen (Landesgleichstellungsgesetze), die sich am BGG und an der BITV orientieren, aber nicht einheitlich geregelt sind. Dies führt zu einer unterschiedlichen Gesetzeslage in Ländern und Kommunen. Das Bundesteilhabegesetz – BTHG (Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen), das 2016 erlassen wurde, ist seitdem umstritten, es unterstreicht aber das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben.

Bevor hier auf die für eine barrierefreie IT relevanten Rechte und Normen der EU eingegangen wird, ist es wichtig, den weltweiten Bogen zu spannen.

Universelles Menschenrechtsabkommen

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) verabschiedete im Jahr 2006 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Convention on the Rights of Persons with Disabilities CRPD. In deutscher Kurzfassung: UN-Behindertenrechtskonvention UN-BRK). Dieses universelle Menschenrechtsabkommen wurde im Jahr 2008 in Deutschland ratifiziert, d. h. in geltendes Recht umgesetzt. Die UN-BRK definiert in 50 Artikeln die Rechte von Menschen mit Behinderungen, zu denen auch eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe gehören. Artikel 27 erklärt das Recht auf Arbeit:

Artikel 27 — Arbeit und Beschäftigung
„(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit; dies beinhaltet das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird. Die Vertragsstaaten sichern und fördern die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit…“
um 
„b. das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, einschließlich Chancengleichheit und gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit, auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, einschließlich Schutz vor Belästigungen, und auf Abhilfe bei Missständen zu schützen;…
h. die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen im privaten Sektor durch geeignete Strategien und Maßnahmen zu fördern, wozu auch Programme für positive Maßnahmen, Anreize und andere Maßnahmen gehören können;…
j. das Sammeln von Arbeitserfahrung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durch Menschen mit Behinderungen zu fördern;…“

Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert eine umfassende barrierefreie Gestaltung der Umwelt. In Artikel 9 Absatz 1 wird diese allgemeine Forderung u. a. für den gleichberechtigten Zugang zu Information und Kommunikation (IuK), einschließlich der Informations- und Kommunikationstechnologien und IuK-Systemen, differenziert.

Die UN-BRK gilt seit 2011 für alle EU-Mitgliedsstaaten, die ihre Gesetze dementsprechend anpassen mussten. In Deutschland ist dies im BGG geschehen. Das BGG gilt allerdings nur für öffentliche Stellen des Bundes, wohingegen die UN-BRK auch private Anbieter adressiert, was einen erheblichen Unterschied in den daraus resultierenden Konsequenzen macht. Die UN mahnt die Bundesregierung regelmäßig, sich stärker und konkreter für die Umsetzung der Konvention einzusetzen. Die UN-BRK befürwortet beispielsweise den Abbau von Sondereinrichtungen wie Werkstätten und Förderschulen. Die bisher fehlende Entwicklung in diese Richtung in Deutschland wird, ungeachtet des aktuellen öffentlichen Diskurses zu dieser Thematik, von der UN angemahnt.  Drei innerstaatliche Stellen sind für das Monitoring der Umsetzung verantwortlich. 

EU-Harmonisierung für IT-Barrierefreiheit

Auch auf EU-Ebene gibt es Richtlinien und Normen, die in das Behindertengleichstellungsgesetz einfließen müssen. 

2014 wurde mit dem Mandat 376 die Grundlage für die Norm EN 301 549 geschaffen, die auch als Referenz für die Vergabe barrierefreier IT genutzt werden kann. Diese europäische Norm definiert die technischen Standards, die erfüllt werden müssen, damit Produkte der Informations- und Kommunikationstechnologien als barrierefrei gelten. Dazu zählen Websites, mobile Anwendungen sowie nicht web-basierte und Software-Anwendungen. Die übergreifende Forderung des Mandats ist die Verankerung der Barrierefreiheit als Vergabekriterium in öffentlichen Ausschreibungen mit verbindlichen, standardisierten Kriterien. Sie gilt sowohl für öffentliche als auch für private Anbieter.

Die Norm EN 301 549 erhielt durch die Richtlinie 2016/2102 "über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen" den erforderlichen juristischen Rahmen, um die Forderungen des Mandats 376 in nationales Recht der EU-Mitgliedstaaten umzusetzen. Die Richtlinie treibt die barrierefreie Digitalisierung von Einrichtungen des öffentlichen Sektors (private Stellen sind hier nicht adressiert) voran. Als Anforderung für barrierefreie Websites und mobile Anwendungen bezieht sie sich auf die Norm EN 301 549.
Das bedeutet, dass ab nach einer zweijährigen Umsetzungsfrist ab September 2018 europaweit die darin enthaltenen Regelungen umgesetzt werden müssen. Ganz konkret heißt das für die betroffenen Betreiber*innen von Websites und Apps, dass sowohl die aktuelle Version der BITV bzw. der BITV auf Länderebene mit Bezug auf die EN 301 549 Anwendung findet. Weiterhin wurden Fristen definiert. Demnach müssen auch bereits bestehende Websites ab September 2020 und mobile Anwendungen ab Juni 2021 diesen Vorgaben entsprechen.

European Accessibility Act:  Standardisierung für alle Wirtschaftsakteure der EU

„[M]ehr barrierefreie Güter und Dienstleistungen für 30 Millionen blinde und sehbehinderte Europäerinnen und Europäer.“ So erklärt Wolfgang Angermann, Präsident der Europäischen Blindenunion EBU, die Bedeutung des European Accessibility Act (EAA), der EU-Rechtsakt zur Barrierefreiheit von Dienstleistungen, deren Zustimmung am 9. April 2019 durch den EU-Ministerrat erfolgte. Die Anforderungen an barrierefreie Produkte und Dienstleistungen im Rahmen des EAA gilt für alle Wirtschaftsakteure der EU und schließt alle privatwirtschaftlichen Unternehmen ein, die auf dem europäischen Markt agieren. (Ausnahme: Kleinstunternehmen). Durch die Vereinheitlichung der Standards für Barrierefreiheit soll der Binnenmarkt für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen angekurbelt und erleichtert werden. Der EAA gilt insbesondere für Produkte und Dienstleistungen, die die Teilhabe für Menschen mit Behinderungen unmittelbar erleichtern. Dazu gehören unter anderem:

  • Dienstleistungen im Flug-, Bus,-, Bahn- und Schiffsverkehr
  • Bankdienstleistungen
  • Elektronischer Geschäftsverkehr
  • Computer und Betriebssysteme
  • Smartphones

Auf der Website der Europäischen Union werden die Vorteile des EAA wie folgt zusammengefasst:

Vorteile für Unternehmen

Einsparungen durch gemeinsame Vorschriften für die Barrierefreiheit in allen EU-Ländern

vereinfachter grenzübergreifender Handel

mehr Marktchancen für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen

Vorteile für Menschen mit Behinderung und ältere Menschen

größeres Angebot an barrierefreien Produkten und Dienstleistungen 

barrierefreie Produkte und Dienstleistungen zu wettbewerbsfähigeren Preisen

weniger Hindernisse beim Zugang zu Verkehrsmitteln, Bildung und offenem Arbeitsmarkt

mehr Arbeitsplätze mit Anforderungen an Fachwissen im Bereich Barrierefreiheit

Dokumentenmanagementsysteme: Barrierefreiheit jetzt angehen

Enterprise Content Managementsysteme (ECMS) und Dokumentenmanagementsysteme (DMS) werden zumindest mittelbar von den Anforderungen des EAA betroffen sein. Unternehmen, die auf dem europäischen Markt agieren, müssen sich umfassend mit den Kriterien der Barrierefreiheit im IT-Bereich auseinandersetzen. Bis 2022 muss die Richtlinie in nationales Recht überführt und bis spätestens 2025 in den Unternehmen umgesetzt sein. Für öffentliche Verwaltungen ist mit der EU-Richtlinie 2016/2102 bereits seit September 2019 die Umsetzung der formulierten Kriterien für Barrierefreiheit für Websites, Intranets und mobile Anwendungen bindend.

Angebote für Organisationen im Rahmen des Projektes iDESkmu

Qualifizierungsangebote und Unterstützung für strategisch Verantwortliche in Hinblick auf die technischen und organisatorischen Voraussetzungen für barrierefreie IT und die Umsetzung relevanter Normen, u. a.:

  • Seminarangebote zur Anwendung von Standards und Mindestkriterien in der Beschaffung von IT-Dienstleistungen in der Praxis
  • Modulare zielgruppenorientierte Tools/Checkliste zur Sicherstellung der Einhaltung und Umsetzung relevanter Normen und Verordnungen in der Entwicklung und Vergabe
  • Empowerment von Mitarbeiter*innen ohne technische Vorkenntnisse: Accessibility- und Usability-Mängel in Softwareanwendungen erkennen und IT-Entwickler*innen kommunizieren
  • Consultingangebot und Checklisten zur Umsetzung der Anforderungen von Softwareergonomie und Arbeitsstättenverordnung
  • Tools/Checkliste zur Einhaltung der relevanten Normen und Verordnungen in Entwicklung und Vergabe
  • Handreichungen‚ Standards und Mindestkriterien in der Beschaffung von IT-Dienstleistungen
  • Entwicklung und Erprobung von Prüfkatalogen zur Feststellung der Barrierefreiheit von DMS hinsichtlich einer vereinfachten Vergabepraxis
  • Festlegung von Mindestanforderungen an IT-Ausschreibungen (Arbeiten 4.0, sozialverantwortliche Beschaffung, Berücksichtigung von Novellierungen bestehender Gesetze)